Herzlich Willkommen bei Windgeflüster dem interaktiven Sufi-Roman von Wolf Kunik.
Inspiriert hat mich einer der Protagonisten meiner historischen Romane Ibn Alim zu diesem Projekt. Jedes Kapitel in diesen Romanen beginnt mit einem seiner Aphorismen (in sich geschlossener Sinnspruch in Prosa, der eine Erkenntnis, Erfahrung, Lebensweisheit vermittelt). Ibn Alim ist ein fiktiver Sufimeister, aber seine Worte erscheinen mir sehr real, so als spräche er mit mir. Für meine Romane „Der Katalane“, „Wüstensohn“ und „Tränen der Sahara“ hat er mir schon einige Aphorismen eingeflüstert. Nun möchte ich all seine Weisheiten dem Wind übergeben, auf dass der Wind diese Worte zu den Ohren und Herzen trägt, die offen sind für ihre Liebe und Weisheit.
Während ich nun an dieser Novelle weiterarbeite, will ich nicht nur die Worte verbreiten, sondern auch zur Diskussion stellen. Und ich will jedem, der sich dazu berufen fühlt, die Möglichkeit geben, an dem Werk in Form von Aphorismen teilzuhaben. Wer sich also inspiriert fühlt und in diesem Blog Aphorismen veröffentlicht, erklärt sich somit einverstanden, dass seine/Ihre Worte in einem zukünftigen Druck mit Angabe der jeweiligen Namen veröffentlicht werden. Wie man konkret mitschreiben oder kommentieren kann, wird auf der Seite „So funktioniert es“ erklärt.
Kapitel 1 der Novelle habe ich bereits hier unten veröffentlicht. Die weiteren Kapitel werden folgen. Die Aphorismen, die in dieser Novelle erscheinen, werden auch nach und nach veröffentlicht und können kommentiert werden oder ihr schreibt passende Aphorismen dazu. Die Rahmenhandlung ist nicht für Interaktion vorgesehen.
Viel Spaß beim Lesen, Kommentieren, Diskutieren und Mitschreiben.
Euer Wolf Kunik!
W I N D G E F L Ü S T E R K A P I T E L 1
Vorwort
Rosen können sehr grausam sein. Nicht wegen der Dornen, die brauchen sie, weil sie so schön sind. Aber wenn sie ihre Blüten vor mir verschließen und mich Schweigen strafen, dann schmerzt mich das oft sehr. Wache ich doch über ihren Schlaf und kenne ihre verborgensten Wünsche.
Mein Name ist Mustafa. Ich denke, ihr kennt mich nicht oder vielleicht nur meinen Schatten, denn ich wache in den Nächten im Paradiesgarten über die Rosengärten des Sultans von Granada. Der Sultan ist wohl der größte Rosenkenner auf Erden und hinter den Mauern seiner Gärten wachsen duftende und farbenträchtige Schätze, die sich mit all seinem Gold nicht aufwiegen lassen.
Wenn die Stadt schläft, gehören die Schönen der Nacht mir. Sie sind Leid und Freude meines Lebens. Ich wache darüber, dass keine verbotenen Hände ihre Blüten berühren, keine frechen Nasen unerlaubterweise ihren süßen Duft einsaugen und kein übermütiges Auge einen verbotenen Blick im Mondschein auf sie wirft.
So mancher mag mich ob meiner verantwortungsvollen Aufgabe beneiden – bin ich doch jede Nacht umgeben von solch unermesslicher Schönheit und göttlicher Anmut inmitten dieser zauberhaften Schlossanlagen nahe des Harems des Sultans. Doch ist es nicht einfach, solch üppige Pracht zu betrachten, ohne den heimlichen Wunsch zu verspüren, sie ganz alleine für mich zu besitzen. – Mein Herz brennt vor Eifersucht, wenn die ersten Strahlen der Morgensonne die Blüten berühren und der blaue Himmel ihr glühende Farbenpracht umrahmt. Ich möchte jedem Sehenden die Augen ausstechen, wenn das Licht der Sonne ihnen jene engelsgleiche Anmut des Paradieses offenbart, während sie ihre Knospen öffnen.
Nur allzu gerne bette ich dann mein Haupt auf mein weiches Kissen, um nicht all die Nebenbuhler betrachten zu müssen, die verzückt meine schönen Kinder anstarren.
Ich träume dann, es sei wieder Nacht und nur ich und meine Kinder, die Rosen, existierten – dann ist die Welt wieder so, wie ich sie mag. Denn ich brauche nichts als das Mondlicht und all die wunderschönen Geschöpfe, über deren sanfte Träume ich wache.
Rosen sind wie schöne Frauen – sie sind zu perfekt für die Menschen. Sie sind von einer Schönheit, die besessen macht. Ich möchte sie an mich drücken, sie liebkosen – doch wie kann man eine Blume besitzen, ohne sie zu pflücken und im selben Moment ihres Lebens zu berauben? Jeder liebevolle Blick zu ihnen ist schwanger voller unerfüllter Sehnsucht, daher brauchen sie die Nacht, um sich in sich einzurollen und von den ruhelosen Bewunderern zu erholen. Ich fragte mich oft, wieso Allah diese zugleich wundervollen und bemitleidenswerten Existenzen geschaffen hatten.
Diese und viele andere Fragen beschäftigten mich in den Nächten der vergangenen Jahre. Ich führte viele Gespräche mit meinen Kindern, den Blumen, doch nie erhielt ich auch nur eine einzige Antwort von ihnen. Die Antworten auf meine Fragen kamen über die Lippen Ibn Alims, dem Berater des Sultans. Er war es, der Licht in das Dunkel meines Herzens brachte. Er konnte verstehen, dass ich mit den Blumen sprach, unterhielt er sich doch mit dem Wind.
Kapitel 1 – Über den Wind
Es war in einer kühlen Vollmondnacht, als der Weise Ibn Alim das erste Mal mein Herz für die Geheimnisse des Windes öffnen sollte. Diese denkwürdige Nacht war wie all die anderen Nächte zuvor. Es gab kein Anzeichen für das, was mir in dieser Nacht widerfahren sollte.
Im warmen Licht der Abenddämmerung überquerte ich die Brücke über den Darró. Es war ein wenig kühler als sonst um diese Zeit und fröstelnd erklomm ich den steilen Hang zur Königsstadt. Die Paläste und Festung des Sultans thronten gegenüber Granadas und wurden von mächtigen, weissen Gipfeln umrahmt, die mit ihren Bergquell die Brunnen der Herrscher versorgten. Als ich den Hügel fast zur Hälfte erklommen hatte, labte ich mich so wie jeden Abend an dem mitgenommen warmen, knusprigem Fladenbrot mit ein paar Brocken gebratenen Hammelfleisch und einer saftigen Tomate.
Für einen kurzen Moment hielt ich inne und blickte auf die von der untergehenden Sonne rötlich gefärbten Mauern, die den Blick auf die dahinter liegenden Paläste und Gärten verbargen. Ich wusste, was hinter den Mauern lag. Ich hatte das Plätschern der Brunnen und das Kichern der jungen Mädchen aus dem Harem vernommen. Ich hatte den Duft der Körperöle eingesogen, mit denen der Sultan die weiche Haut seiner Tänzerinnen einreiben ließ. Ich hatte die anmutigen Bewegungen derselben gesehen, als sie durch die Gärten des Paradieses wandeln. Tagtäglich las ich die Lobpreisungen Allahs auf den Wänden der Paläste. Tagtäglich umgab mich die Architektur die für die Augen der Herrscher dieser Welt geschaffen war. Was hätten die Nachbarn aus meinem Haus dafür gegeben, wenn sie einmal nur das hätten sehen und erleben dürfen, was ich jeden Tag zu Augen bekam. Alleine das Spiegelbild seines Antlitzes auf der makellosen Oberfläche der Wasserbecken mit dem blauen Himmel verschmelzen zu sehen wäre vielen gewiss ein großes Opfer wert.
Doch wer noch nie einen Blick hinter diese Mauern geworfen hatte; wer sich auf seine Phantasie und die Geschichten derer verlassen musste, die vorgaben es besser zu wissen, der konnte nicht ermessen, wer die eigentlichen Herrscher in diesem zauberhaften Palast waren. Wer es noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte, der konnte die göttliche Schönheit, welche alles andere hinter diesen Mauern in den Schatten stellte und dem Wind den Atem raubte, nicht kennen. Ich war Hüter dieses Geheimnisses. Zufrieden schluckte ich den letzten Bissen meines Abendessens hinunter und nahm meinen Aufstieg wieder auf.
Yusif begrüßte mich freundlich, als ich das Tor zur Palaststadt namens „Bib Almedina“ durchschritt.
„Pass heute Abend gut auf deine Kinder auf, Mustafa!“
„Ja, Yusif. Aber wieso betonst du dies? Ist dies nicht jede Nacht meine Aufgabe?“`
Yusif sah mich überrascht an.
„Hast du denn nicht gehört, dass heute ein Sturm aufziehen soll?“
„Tatsächlich?“
Ich warf einen prüfenden Blick in den orangenfarbenen Himmel. Der Mond zeigte heute sein volles Gesicht und erschien hinter den Gipfeln der verschneiten Berge.
„Bist du sicher?“, fragte ich ihn.
„Wer kann schon sicher sein? Vielleicht zieht der Sturm auch vorbei. Aber alle sprechen darüber, wundert mich, dass du nichts darüber gehört hast.“
„Du weißt doch, mich interessiert das Geschwätz der Leute nicht.“, erklärte ich ihm. Yusif war ein alter Freund meines Vaters. Er hatte schon vielen Sultanen treu als Wächter gedient und war inzwischen zum Befehlshaber des Tores Bib Almedina ernannt worden. Als mein Vater vor elf Jahren auf dem Sterbebett lag, versprach er ihm, sich meiner anzunehmen. Damals, mit zwölf Jahren wurde ich zum Vollwaisen. Yusif konnte mich zwar in seinem Haus aufnehmen, aber ernähren konnte er mich nicht. Also teilte er mich zum Wachdienst ein. Doch ich taugte nicht für den Dienst am Tor mit den vielen Menschen, sie machten mich nervös. Mit den Blumen allerdings war es anders: nicht nur konnte ich ihre Gegenwart viel besser ertragen, vielmehr genoss ich es, meine Zeit mit ihnen zu verbringen. Deshalb hatte Yusif mich als Gartenwache in den Nächten eingeteilt.
„Also gut, wollen wir das Beste hoffen“, sagte Yusif und unterbrach meine Gedanken.
„Ja, hoffen wir das Beste“, bestätigte ich, nickte ihm zu und machte mich auf den Weg zum Garten.
„Ich wünsche dir eine schöne Nacht. Frieden sei mit dir!“
„Ja, das wünsche ich dir auch. Frieden sei mit dir“, sagte Yusif und kreuzte seine Arme vor der Brust.
Ich warf noch einmal einen Blick auf den Himmel – wieder fröstelte es mich. Flauschige Wolken türmten sich auf. Sie sahen eher freundlich denn gefährlich aus. Es war zwar ungewöhnlich kühl, aber ich konnte nicht glauben, dass es ein Unwetter geben sollte. Sicherlich täuschten sich die Leute, die auf der Straße schwätzten – so wie immer.
Der strategisch beste Platz, um alle Blumen im Blick zu behalten, war zwischen den dichten Zypressen, die oberhalb der Rosengärten lagen. Von dort aus hatte ich alle meine Kinder im Überblick, ohne selber gesehen zu werden. Es war von großem Vorteil, im Verborgenen zu bleiben, denn auf diese Weise hatte ich schon zahlreiche Blumendiebe auf frischer Tat ertappen können. Es hatte sich in den letzten Jahren allerdings herumgesprochen, dass ich meine Kinder sehr aufmerksam bewachte, weshalb es kaum mehr tollkühne Versuche gab, meine Kinder zu entführen. Ich glaube, der Sultan war zufrieden mit meinem Tun, denn er hatte anordnen lassen, dass mir jeweils zu Mitternacht und nachts um drei Uhr eine heiße Kanne Minztee mit viel Zucker serviert wurde. Manchmal wurde mir sogar süßes Gebäck dazu gereicht. Yusif hatte mir zunächst nicht gesagt, dass es der Sultan persönlich gewesen war, der dies angeordnet hatte. Er ließ mich im Glauben, es sei seine Idee, aber als sich Masud, der tagsüber die Blumen bewachte, über meine Sonderbehandlung beschwerte, konnte Yusif nicht umhin, ihm zu erklären, dass es der ausdrückliche Wunsch des Sultan gewesen war, mich in den Nächten mit Tee und Gebäck zu versorgen. Offensichtlich teilte er die Liebe zu meinen Kindern und ihm müssen Berichte über meine Unbarmherzigkeit zu Ohren gekommen sein.
Masuds Neid wurde durch Yusifs Erklärung aber nicht gezügelt, sondern noch geschürt. Doch das war mir gleichgültig. Ich hatte ohnehin keine Freunde und wollte auch keine haben. In meinem Leben existierten nur meine Kinder und meine Sorgen um sie.
Es war genau um Mitternacht, als Aisha mir die gewohnte Kanne mit heißer Minze überreichte.
„Es ist plötzlich so kühl geworden, findest du nicht auch“, fragte sie, während sie mir ihren leeren Becher entgegenstreckte. Da die riesige Kanne mit frischer, süßer Minze für mich zu viel war, gab ich ihr stets etwas von meinem Mitternachtstrunk ab.
Plötzlich erfüllte ein lauter Donner die Luft. Beinahe vergoss ich etwas von dem heißen Tee. Besorgt betrachtete ich den Sternenhimmel. Wie ein schwarzer Vorhang zogen schwere Wolken auf und ein starker Wind rüttelte an den Blättern der hohen Bäume.
Aisha verzichtete dieses Mal auf den Tee und eilte hastig davon, um dem sich ankündigenden Regenguss zu entkommen. Schon fielen die ersten dicken Tropfen auf meinen Kopf und Schultern. Erbarmungslos strich der raue Wind über die zarten Köpfe meiner Kinder. Voller Angst und Sorgen sah ich, wie sie ihre Häupter unter seiner übermächtigen Gewalt beugten. Ich fluchte über den Wind, der im Begriff war, meinen Kindern ihre Häupter zu entreissen. Wie sollte ich meine Kinder nur vor seinem rauen Atem schützen?
„Du siehst sehr besorgt aus.“
Ibn Alim legte seine Hand beruhigend auf meine Schulter. Ich drehte mich erschrocken um und erblickte sein liebevolles Lächeln. Schon oft hatte ich ihn des nächtens nachdenklich durch den Garten wandeln sehen. Häufig machte er einen ausgedehnten Spaziergang durch die Gärten der Palastanlage und grüßte mich freundlich aus der Ferne. Aber noch nie war er bei mir stehen geblieben. Noch nie hatte er mich direkt angesprochen. Noch nie hatte er sich so sehr genähert.
„Großer Meister“, sagte ich und ließ mich demütig auf die Knie fallen. Sein weißes Gewand flatterte im immer wilder aufrauschenden, kühlen Wind.
„Nicht doch, Mustafa.“
Er packte mich erneut sanft an den Schultern, um mich wieder aufzurichten. Woher kannte er wohl meinen Namen?
„Was bekümmert dich so sehr?“, fragte er.
„Es ist der Sturm, oh großer Meister. Er wird die Blüten aller Blumen abbrechen, wenn er erst richtig loswütet.“
„Meinst du?“ Ibn Alim sah mich nachdenklich an, um dann einen Blick auf meine Kinder zu werfen, um die ich mich sorgte.
„Ich finde, es sieht eher so aus, als würden sie vergnügt tanzen“, sagte er. Ich getraute mich nicht, ihm zu widersprechen.
„Glaubst du, die Blumen fürchten den Wind auch so wie du?“, fragte er.
„Ich weiß es nicht.“
„Aber du redest doch mit ihnen“, wunderte er sich.
„Ja, aber sie antworten mir nicht“, erklärte ich und wunderte mich darüber, woher er wohl wisse, dass ich mich mit meinen Kindern unterhielt.
„Vielleicht tun sie es und du kannst sie nur nicht verstehen“, gab er zu Bedenken.
„Glaubt Ihr wirklich? Das wäre furchtbar“, grämte ich mich.
„Auch der Wind spricht mit uns. Vielleicht kannst du ja seine Worte verstehen?“, fragte er mich.
„Nein, ich fürchte den Wind, denn er trägt Staub in meine Augen und er bricht die stärksten Bäume.“
Ibn Alim breitete seine Arme aus und streckte seine Brust dem Wind entgegen.
„Der Wind ist voller Liebe und göttlicher Kraft. Wenn du die Tore deines Herzens für ihn öffnest, wird er deine Brust damit erfüllen.“
Ich betrachtete verwundert den Weisen, wie er mit geschlossenen Augen und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen dem Sturm trotzte.
„Erzählt mir etwas über den Wind“, bat ich ihn. Er öffnete seine Augen und sah mich mit einem dergestalt leuchtenden Blick an, dass mir fast bange zumute wurde. Die Regenwolken zogen vorüber, ohne sich über unseren Köpfen zu entleeren.
„Der Wind trägt sanft Worte durch die Lüfte so wie die Katze ihre Jungen. Durch ihn spricht der Sand mit der Wüste, die Wellen mit den Fischen, die Bäume mit den Vögeln, Allah mit den Menschen. Der Wind gibt den Seelen ihre Stimmen und wer lernt, sie zu verstehen, der weiß die Weisheiten aus fernen Welten zu deuten. Willst du Liebe säen, so bemühe den Wind, auf dass er sie zu den entlegensten Orten trage. Willst du Hass säen, hüte dich, den Wind zu fragen, denn ein mächtiger Sturm wird über dich kommen.“
Bei Morgengrauen ging ich hinunter zur Stadt, spazierte durch den Markt und betrachtete die eifrigen Gewürz- und Gemüsehändler. Mit lauten Stimmen priesen sie die Frische und Güte ihren Waren an, obwohl es zu dieser frühen Stunde kaum interessierte Käufer gab. Ob der Wind diese Lobgesänge auch zu anderen Ländern tragen würde? Oder wählte der Wind die Worte aus, die er auf langen Reisen mit sich nahm?
Der Darró lud mich ein, an seinem Ufer Platz zu nehmen und dem Murmeln des aufgewühlten, hellbraunen Wassers zu lauschen. Ein dicker Zweig wurde von der Strömung mitgerissen und zog an mir vorbei. Schemenhaft erkannte ich vier dicke Forellen im Schatten des Zweiges. Welche Geschichten hatte wohl der Fluss zu erzählen, der die lange Strecke aus den Bergen bis hinunter in die Stadt hinter sich gebracht hatte? Was hatte er gesehen? Was hatte er gehört? Welche Gedanken hatten sich in seinen Strudeln verfangen und wurden nun ins Meer gespült?
Ich erreichte das Haus, in dem ich ein Zimmer gemietet hatte. Es war später als gewöhnlich. Mühsam erklomm ich die steile Stiege, so als hätte ich einen langen Marsch hinter mich gebracht. Ich öffnete die Tür zu meinem Reich. Stickige Luft schlug mir entgegen. Ich öffnete die Läden einen Spalt weiter. Noch nie war ich so spät nach Hause gekommen. Wie lange mochte ich wohl am Ufer des Darró gesessen haben? Die Sonne stand schon sehr hoch. Nun musste ich mich schnell zum Schlafen legen, denn heute Nacht würde ich wieder meine Kinder bewachen müssen.
Mit schlechtem Gewissen legte ich mich auf mein Lager, seufzte und schloss die Augen. Plötzlich vernahm ich das leise Wimmern einer Frau.
„Hoffentlich geht sie weiter oder hört auf zu jammern“, dachte ich und drehte mich auf die andere Seite meines Lagers, die Wand anschauend. Ich dachte an meine geliebten Kinder. Hoffentlich hatten sie alle den Sturm überlebt! Das Gespräch mit Ibn Alim hatte mich so sehr abgelenkt, dass ich es versäumt hatte, mich zu vergewissern, ob sie alle die Nacht gut überstanden hatten. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn der Sultan entdecken würde, dass einige von ihnen abgeknickte Köpfe hatten. Sicher würde er dann mir die Schuld geben und mich bestrafen, weil ich nicht gut genug auf meine Kinder aufgepasst hatte.
Ich konnte nicht schlafen. Das Wimmern wollte nicht verstummen. Ich hielt mir die Ohren zu. Wieso hatte Ibn Alim mich ausgerechnet in dieser Nacht angesprochen? Wäre ich heute Morgen zur gewohnten Stunde nach Hause gekommen, würde ich sicher schon tief schlafen und die weinende Frau würde mich nicht weiter stören. Nun lag ich wach im Bett und wünschte mir, dass sie endlich damit aufhörte.
Wieso hatte Ibn Alim mich überhaupt angesprochen? Plötzlich begann ich Fische im Fluss zu sehen und den Händlern auf dem Markt zu lauschen und jetzt auch noch das klagende Weib unter meinem Fenster. Ich hatte eine wichtige Aufgabe und sollte mich nicht ablenken lassen. Schließlich war es schwer genug, die ganze Nacht kein Auge zu zutun, während die anderen und meine Kinder friedlich schliefen. Sicherlich war es inzwischen Mittag und noch immer schlief ich nicht.
Das Wimmern wurde lauter. Ich konnte nicht mehr weghören. So wie ich plötzlich den Stimmen auf dem Markt zuhörte, lauschte ich dem Wehklagen, obwohl ich es nicht wollte, obwohl ich wusste, dass ich dadurch meine Pflichten vernachlässigte. Verärgert über mich selber stand ich auf, schritt an das Fenster und öffnete den Laden.
Auf der Gasse unter meinem Fenster kauerte eine junge Frau und schluchzte. Ich hatte sie noch nie zuvor in unserem Viertel gesehen. Sie hatte langes blondes Haar, sie wäre mir bestimmt aufgefallen. Ihre Gestalt wirkte zart, fast zerbrechlich. Ihren Blick hatte sie auf den Boden gerichtet, weshalb ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ihre Stimme klang sanft. Ich schloss den Laden wieder und legte mich auf den Rücken. Irgendwie musste es mir gelingen, zu schlafen, sonst würde ich heute Nacht meiner Aufgabe nicht nachkommen können.
Ich blickte auf den Schatten, den der Fensterladen auf die gekalkte Wand warf. Da ich sonst zu dieser Zeit immer schlief, war mir das regelmäßige Bild, das die Sonne durch die Schlitze des Ladens auf die Wand malte, bisher noch nie aufgefallen. Ich wünschte mir, dass die junge Frau endlich aufhören möge zu wimmern, damit ich endlich meine verdienten Träume finden konnte. Und siehe da, sie schien mich zu erhören. Das Jammern verstummte langsam.
Erleichtert schloss ich die Augen, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ich dachte an die Frau. Was mochte sie so traurig stimmen, dass sie mitten auf der Gasse hockte und weinte? Wieso fragte sie keiner, was mit ihr los war? Wieso half keiner diesem armen Geschöpf? Was mochte ihr widerfahren sein?
Seufzend stand ich auf und öffnete wieder den Laden. Da saß sie immer noch, in sich zusammengesunken. Stumm – doch als ich sie mir genauer anschaute, erschien es mir als könnte ich ihr Wimmern in meinem Kopf hören. Es klang, als würde sie in einer großen Höhle weinen und ihr Schluchzen hallte in meiner Stirn wider.
„Hallo!“, rief ich zu ihr hinunter. Sie antwortete nicht.
„Hallo?“
Ich wusste nicht was ich ihr sagen sollte. Wieso reagierte sie nicht auf meine Worte?
„Hallo.“, sagte ich nun mit einem milderen Ton. Sie blickte auf. Überrascht von der Schönheit ihres Antlitzes, sperrte ich sprachlos den Mund auf. Ihre traurigen Augen musterten mich.
„Wie heißt du?“, fragte ich sie.
Sie machte Zeichen in der Luft.
„Wie dein Name ist, möchte ich wissen.“
Sie schüttelte den Kopf. Ihrer Kehle entglitten gurgelnde Laute. Erschrocken sah ich sie an.
„Wie?“
Wieder gestikulierte sie verzweifelt.
„Du kannst nicht sprechen?“
Sie nickte.
„Ich bin Mustafa. Hast du Hunger?“
Sie nickte.
